Was ist Muskelhypotonie?

Muskelhypotonie ist mehr als ein Symptom, selbst wenn sie im medizinischen Sinn nicht als eigenständige Krankheit verstanden wird. In der internationalen Klassifikation von Funktionen/ICF der WHO sind zahlreiche Funktionseinschränkungen definiert, die den Muskeltonus betreffen.
Muskelhypotonie birgt einen Symptomenkomplex, der ohne Behandlung in der Säuglingsphase vielschichtige Entwicklungsverzögerungen nach sich ziehen kann. Im frühen und weiteren Kindesalter bilden sich Kompensationsstrategien und vermeidendes Verhalten aus, die es Fachleuten und Eltern erschweren, die Muskelhypotonie zu erkennen. Im Jugend- und Erwachsenenalter können Spätfolgen auftreten, die als „orthopädische Probleme“ dominieren.

  • Muskelhypotonie beeinflusst den psychomotorischen Antrieb und das damit verbundene Explorationsverhalten.
  • Muskelhypotonie erschwert die Kontrolle der Körperhaltung (posturale Kontrolle), die Balance und die motorische Geschicklichkeit.
  • Muskelhypotonie verzögert meist die sensomotorische Entwicklung, die selbstständige Aufrichtung in die Vertikale. Bewegungszwischenstufen werden ausgelassen, z. B. Seitenlage, Drehung, Krabbeln, Hockstellung.
  • Die niedrige Muskelspannung vermindert die Wahrnehmung des Tastsinnessystems. Vor allem ist die Tiefensensibilität betroffen, die Propriozeption, mit Auswirkungen auf das Körperschema.
  • Nicht nur die psychomotorische Entwicklung kann sich verzögern, sondern auch die sozio-emotionale Reifung.

Muskelhypotonie hat rätselhafte Schattierungen, die anfangs ein undurchsichtiges Relief ergeben, sofern keine Grunderkrankung oder genetische Abweichung diagnostiziert wird. Die ersten Lebensjahre sind von Antriebslosigkeit und fehlender Vitalität überschattet. Im späteren Alter arrangieren sich die betroffenen Kinder mit ihren Defiziten und kompensieren diese bisweilen fantasiereich und humorvoll.
Benigne, gutartige Muskelhypotonie wächst sich jedoch nicht aus, auch wenn manche Fachleute meinen, sie sei vorübergehend, transitorisch. Im Laufe der Jahre erscheinen die Symptome dezenter und werden von erworbenen Fähigkeiten überlagert. Sie fallen nicht mehr vorrangig als Koordinationsstörungen auf, beeinflussen das Verhalten jedoch weiterhin. Auf jeden Fall verringert unbehandelte Hypotonie der Skelettmuskulatur die Ausdauer und Leistungsfähigkeit in Schule und Beruf.
„Die Muskelhypotonie ist das Chamäleon der Kinderneurologie“ sagt die Kinderneurologin Angelika Enders (Enders 2003, S. 516). Den verschiedenen Verfärbungen eines wechselwarmen Reptils wie dem Chamäleon auf die Schliche zu kommen, ist nicht so einfach.

Frühe Symptome

Nahrungsaufnahme

Im Säuglingsalter dominieren die Schwierigkeiten beim Stillen und Trinken:

  • Säuglinge mit hypotoner Mund- und Schluckmuskulatur saugen schwach, langsam mit ungenügendem Mundschluss. Sie schlafen an der Brust ein, nehmen nicht genug Nahrung auf.
  • Sie verschlucken sich häufig beim Saugen, weil die Koordination von Trinken und Atmen nicht verlässlich gelingt.
  • Wenn eine Nahrungssonde gelegt wurde, gestaltet sich die Entwöhnung als sehr langwierig.
  • Betroffene Kinder verlangen über das Säuglingsalter hinaus die Flasche, sie verweigern Nahrungsumstellungen, besonders festere Nahrung.
  • Das Essen und Trinken ist sehr zeitaufwendig. Unter Umständen lässt der Zahndurchbruch auf sich warten.
  • Wenn Kinder im zweiten Lebensjahr noch nicht kauen, finden die Zähne des Ober- und Unterkiefers weniger zu einem Zusammenschluss. Es bilden sich keine geschlossenen Zahnreihen aus. Das kann später eine kieferorthopädische Behandlung nach sich ziehen.
  • Zwischen den Mahlzeiten schläft das Baby mit Muskelhypotonie auffällig lange, tagsüber ist es weniger als andere Säuglinge wach. Es meldet sich auch nachts seltener, wenn es hungrig ist. Die Eltern freuen sich, wenn ihr Kleines unerwartet durchschläft. In den ersten Lebensmonaten erscheint dieses Verhalten vordergründig als „pflegeleicht“. Dahinter kann jedoch fehlende Vitalität im Kontext von Muskelhypotonie stecken.

Kommunikation

Sorgen bereitet den Eltern das mangelnde Kommunikationsbedürfnis ihres Babys:

  • Es erwidert den Blickkontakt trotz liebevoller Zuwendung nicht oder nur kurz.
  • Es wendet den Kopf und Blick nicht Personen und interessanten Dingen zu.
  • Das Baby greift nicht spontan nach dem Gesicht der Eltern in seiner Reichweite.
  • Das Kind beobachtet wenig die Umgebung, es wirkt teilnahmslos.
  • Neben oder nahe vor dem Kind liegende Objekte werden nicht beachtet,
  • es dreht sich nicht, um danach zu greifen.
  • Die Augen wirken irritiert bei sich schnell bewegenden Objekten, z. B. Kugel.

Nach diesen ersten Beobachtungen der Eltern wird vom Arzt manchmal der Verdacht auf eine Autismusspektrumstörung ausgesprochen. Diese Vermutung ist weniger relevant, wenn die für Muskelhypotonie typischen Haltungs- und Bewegungsauffälligkeiten hinzukommen. Mehr zu auffälligen Augenbewegungen/okularen Motilität lesen Sie in Seiler (2017) Nicht verzagen trotz Muskelhypotonie – Perspektiven bei Entwicklungsverzögerungen. Springer)

Körperhaltung, Bewegung und Koordination

  • Das Baby strampelt wenig. Die Beine liegen gestreckt wie auseinandergefallen auf der Unterlage. Es verdreht die Füße nach außen, die Großzehen sind abgespreizt.
  • In Rückenlage stemmt es die Fersen nicht gegen den Widerstand einer Begrenzung. Es macht keine Brücke. Beim Wickeln stößt das Baby nicht mit seinen Füßen gegen den Körper der Eltern.
  • Der Säugling zieht seine Füße mit den Händen nicht ins Blickfeld und zum Mund. Er berührt wenig seine Körperbereiche. Die Gliedmaßen sinken immer wieder ab, fallen auf die Unterlage.
  • Das Anheben der Arme in Rückenlage ist nicht möglich, die Oberarme liegen auf, die Unterarme werden angewinkelt, manchmal die Hände verdreht. Wedelnde Bewegungen der Hände kommen vor.
  • Der Säugling nimmt weder Hände, noch Füße oder Objekte in den Mund.
  • Das Ausbleiben der Hand-Fuß-Mund-Koordination ist ein sicheres Zeichen für Muskelhypotonie.
  • Das kleine Kind greift nicht mit beiden Händen nach dem Spielzeug, lässt oft etwas fallen. Beim Greifen wird eine Hand bevorzugt, die andere kaum zum Spielen genutzt.
  • Kinder mit Muskelhypotonie meiden die Bauchlage, sie spielen nie oder ungern in dieser Position. Es fällt ihnen schwer auf dem Bauch liegend ihren Kopf anzuheben. Meist sinkt dieser nach kürzester Zeit ab und wird bevorzugt zu einer Seite zwischen den Armen abgelegt.
  • Die Unterarme sind unter dem Bauch eingeklemmt oder rutschen zu weit nach vorne, Abstützen auf die Arme gelingt nicht. Das Kind kann in der Bauchlage nicht viel sehen und nicht spielen.

Leider geben viele Eltern nach, wenn ihr Kind die Bauchlage nicht akzeptiert – mit Auswirkung auf dessen weitere Entwicklung. Damit Säuglinge mit Muskelhypotonie die nötigen Entwicklungsschritte zur aktiven Aufrichtung erlernen, sind Rat und Begleitung von Kinderphysiotherapeut*innen erforderlich. Neurophysiologische Behandlung ist kein kurzer Prozess, sie dauert mindestens ein bis mehrere Jahre.

Tragen und Körperpflege

  • Beim Hochnehmen und Tragen hilft das Kind nicht mit. Der Kopf sinkt nach hinten, die Arme und Beine werden nicht gebeugt. Das Anklammern in der angeborenen Anspreiz-Hock-Stellung fehlt. Die Haltung beim Tragen wirkt puppenartig mit schlenkernden, baumelnden Gliedmaßen. Das Kleine fühlt sich schwer an und droht zu entgleiten. Es hält sich nicht fest, sondern lehnt sich ungeschickt an den Körper der Eltern oder überstreckt sich nach hinten.
  • Die Körperhaltung sieht schief, asymmetrisch, aus im Liegen, Sitzen, beim Tragen, Wickeln und Baden. Der Kopf fällt immer wieder aus der Körpermitte zur Seite, bevorzugt zur selben Seite.
  • Das Kind hilft beim Anziehen nicht mit, steckt die Arme und Beine nicht in die Kleidung. Es benötigt viel Hilfe beim Aus- und Anziehen und bei der Körperpflege, um Jahre länger als andere Kinder.

Diagnose „Entwicklungsverzögerung“

Bei kinderärztlichen Untersuchungen sind die angeborenen primären Reaktionen (veraltet „Reflexe“) nur schwach auslösbar, nie überreaktiv. Das prompte Abstützen auf die Hände fehlt. Die Gleichgewichts-/Balancereaktionen bei Positionsveränderungen treten verzögert ein. Wenn die Saugreaktion abgeschwächt ist, besteht eine Trinkschwäche, die die Nahrungsaufnahme erschwert.
Die vorläufige Diagnose, die bei den Vorsorgeuntersuchungen gestellt wird, lautet häufig „Entwicklungsverzögerung“. Ein Säugling mit Muskelhypotonie greift nicht nach seinen Füßen, um damit zu spielen. Er rollt und dreht sich nicht vom Rücken auf den Bauch, er rutscht in der Bauchlage nicht im Kreis (Pivoting) und beginnt nicht zu robben. Ein solches Baby krabbelt nicht, es übt die gekreuzte Koordination der Gliedmaßen nicht ein. Es richtet sich ohne seitliche Körperdrehung zum Sitzen auf und zieht sich mit einem Ruck in den Stand hoch, lässt Kniestand und Hockstellung aus.
Bereits beim ersten Verdacht auf eine Entwicklungsverzögerung ist es wichtig, mit kindesgerechter Physiotherapie nach einem neurophysiologisch orientierten Konzept zu beginnen. Im Säuglingsalter darf keine Zeit für die Förderung verloren werden, auch wenn der oft langwierige medizinisch-diagnostische Prozess noch nicht abgeschlossen ist. Der Arzt entscheidet, ob spezifische kinderneurologische Untersuchungen erforderlich sind.

Im Kindergartenalter

Sozio-emotionale Reife

Das Kind mit Entwicklungsverzögerung braucht auch im sozialen Gefüge länger für seine seelische Reifung. Sein subjektives Körpergefühl vermittelt ihm Haltlosigkeit. Die fehlende Muskelspannung vermindert die Chancen des Kindes beim Spielen, Turnen und Klettern mitzuhalten. Wenn ein kleines Kind mit motorischer und emotionaler Reifeverzögerung verfrüht in die Kindertagesstätte kommt, fühlt es sich gegebenenfalls nicht nur haltlos, sondern auch hilflos. Die Eingewöhnungsphase gestaltet sich besonders schwierig, weil das unsichere Kind versucht, die Symbiose zu seinen Eltern aufrechtzuerhalten – oft ohne Erfolg mit viel Geschrei.

Manchmal übersehen Eltern die besonderen Probleme ihres Kindes, das die häusliche Geborgenheit noch braucht. Die Unsicherheit verbirgt und kompensiert das Kind mit einer verlängerten symbiotischen Bindung an die Eltern. Erzieher*innen fallen die Probleme des Kindes und sein vermeidendes Verhalten in der Gruppe mit Gleichaltrigen eher auf als den Eltern im beschützten Rahmen zu Hause. Falls noch keine entwicklungsfördernde Therapie begonnen wurde, besteht dringend Handlungsbedarf.

Kommunikation, Hören und Spracherwerb

Wenn die Mundmuskulatur von Muskelhypotonie mit betroffen ist und das ist häufig der Fall, verzögert sich nicht nur das Essenlernen, sondern häufig auch die Sprachentwicklung. Das Kleinkind ahmt weniger Mundbewegungen nach, imitiert kaum Geräusche und Tierstimmen, prustet nicht und kann keine Schnalzlaute machen. Wenn das sprachentwicklungsverzögerte Kind endlich Wörter bildet, so klingt die Aussprache verwaschen, ungenau. Die Lautbildung ist undeutlich und unvollständig, auch noch im Vorschulalter. Eine logopädische Behandlung wird eingeleitet, denn Sprachprobleme fallen nicht nur den Eltern, sondern auch außenstehenden Personen auf, – im Gegensatz zu den bereits lange vorher bestehenden sensomotorischen Schwierigkeiten von Kindern mit Muskelhypotonie.

Ein entwicklungsverzögertes Kind, das zu Hause zu gerade zu sprechen beginnt, wird beim Eintritt in den Kindergarten wieder verstummen. In einer Gruppe ist es kaum möglich, die Kommunikation mit dem sprachentwicklungsverzögerten Kind so wohlwollend aufrechtzuerhalten, dass es seine mühsamen Sprechversuche nicht aufgibt. Es fühlt sich unverstanden und zieht sich frustriert zurück. Die zu Hause erreichten Fortschritte können in einem anderen Umfeld abrupt verschwinden. Die Eltern sollten das sensible Zeitfenster zum Spracherwerb ihres Kindes unbedingt beachten und die Förderung nicht nur anderen Personen überlassen. Ohne Vertrauen in geliebte Menschen entwickelt kein Kind Motivation zum Kommunizieren.

Alltagshandlungen

Der Lernprozess zur Selbstständigkeit bringt Eltern und Erzieher*innen an ihre Grenzen der Geduld. Für vermeintlich einfache alltägliche Handlungen benötigen Kinder mit Muskelhypotonie kontinuierlich Übung, freundliche Aufmerksamkeit und sehr viel Zeit.

  • Kinder mit Entwicklungsverzögerungen sind extrem langsam und unselbstständig beim Anziehen und Ausziehen. Sie verwechseln bei Kleidungsstücken innen und außen, vorne und hinten, oben und unten, bei Schuhen links und rechts. Knöpfe und andere Verschlüsse bereiten ihnen enorme Schwierigkeiten.
  • Auch bei der Nahrungsaufnahme bleiben sie hinter den Fähigkeiten der Gleichaltrigen zurück. Der Umgang mit Besteck fällt schwer. Schneiden, Brot schmieren oder Obst schälen muss rechtzeitig zu Hause erlernt werden.
  • Beim Eingießen und Trinken wird Flüssigkeit verschüttet. Das Kind trinkt hastig, hat Mühe aus dem Becher zu trinken. Flaschen mit Aufsatz sind keine gute Lösung, sie verhindern die erforderliche Anpassung der Mundmotorik den Becherrand.

Diese zahlreichen Schwierigkeiten im Alltag bedeuten, dass Kindern mit Muskelhypotonie viel zu viel und jahrelang geholfen wird bei täglichen Verrichtungen. Leider wird kein Kind selbstständig ohne die Erfahrung, Alltägliches selbst zu tun. Nur Selbstwirksamkeit führt zur Selbstständigkeit. Hierbei sind Bezugspersonen gefragt, die das Kind anteilnehmend und abwartend begleiten, jedoch nur punktuell Assistenz geben, wenn dies unbedingt nötig ist. Alltagshandlungen zu bewältigen ist ein emotional anspruchsvoller Lernprozess, der Reflexionsfähigkeit, Selbstkontrolle und Absprachen aller Erwachsenen erfordert, die Kinder mit Muskelhypotonie fördern wollen.

Bewegung und Ausdauer

Beim Kindergartenausflug kann das Kind mit Muskelhypotonie das Schritttempo der anderen nicht mithalten. Es ermüdet schnell beim Gehen, klagt evtl. über Fußschmerzen. An der Hand der Erzieherin ist es das Schlusslicht der Gruppe.

  • Das Kind ist unsicher auf unebenem Gelände. Beim Treppensteigen geht es vorsichtig von Stufe zu Stufe im Nachstellschritt.
  • Es vermeidet Herausforderungen wie Klettern, traut sich nicht abwärts.
  • Die Kraft zum Hüpfen, die Sprungkraft, ist eingeschränkt oder fehlt.
  • Das Kind erlernt nicht selbst zu schaukeln, lässt sich anschubsen.
  • Das Kind vermeidet zu balancieren.
  • Das Gehen wirkt nicht geschmeidig. Hinsetzen und Aufstehen erfolgen ruckartig.

Kinder mit Muskelhypotonie verhalten sich meist defensiv im Außenbereich der Kindertagesstätte. Sie kommen im Tempo, in Ausdauer und Geschicklichkeit Gleichaltriger nicht mit. Sie halten sich buchstäblich am Rand (der Sandkiste) auf und bleiben dort ohne Teilhabe sitzen. Ihre eingeschränkte Beweglichkeit wirkt sich aus auf ihr Spielverhalten. Das Erfahrungsdefizit von Kindern mit Muskelhypotonie kann sich unter Umständen noch in einer integrativen Gruppe vergrößern, wenn keine individuellen Erfolge erlebt werden. Bei fehlender sensomotorischer Handlungsplanung und Betätigung spricht man von Entwicklungsdyspraxie, die ergotherapeutisch behandelt werden sollte.

Malen und Basteln

Feinmotorische Tätigkeiten können Kinder mit verminderter Muskelkraft oft nur mit Hilfe bewältigen. Das Schneiden mit der Schere ist eine große Hürde, da es die Koordination beider Hände erfordert. Auch die Stifthaltung kann auffällig sein. Viele dieser Kinder vermeiden das Malen von Menschen, weil sie sich dabei nicht ausreichend auf ihre Körperwahrnehmung stützen können (Körperschemastörung). Die tiefensensorische Wahrnehmung ist beeinträchtigt, dies macht sich beispielsweise im fehlenden Druck beim Papierfalten oder im verminderten Zug beim Fädeln, Flechten, Knoten bemerkbar. Mehr dazu finden Sie im Ratgeber: Seiler (2010) Chancen für Kinder mit Muskelhypotonie und Entwicklungsverzögerung.

Geräuschempfindlichkeit

Im Mittelohr befinden sich drei winzige Gehörknöchelchen, die mit Muskeln verbunden sind. Im Kontext von Muskelhypotonie kann die Spannung dieser verborgenen Muskeln vermindert sein. Die Folge ist eine veränderte Hörwahrnehmung, die häufig mit Geräuschempfindlichkeit verbunden ist.

  • Kinder mit Muskelhypotonie können häufiger als andere geräuschempfindlich sein. Sie ziehen sich in lauten Gruppen zurück, halten sich die Ohren zu oder verstopfen sie.
  • Der Gesichtsausdruck ist ernst und angespannt, ihre Gesichtsfarbe blass. Der plötzliche Knall eines Luftballons kann Angst auslösen.
  • Der Aufenthalt in einer lärmenden Kindergruppe bedeutet Stress für hochsensible und geräuschempfindliche Kinder.
  • Einige von ihnen reagieren mit aggressiven Ausbrüchen (wie dies auch bei genervten Erwachsene vorkommt). Auditiv hypersensible Kinder gehen ungern in den Kindergarten. Sie verhalten sich still, suchen eine Ecke auf, kriechen in ein Spielhäuschen oder unter einen Tisch.
  • Sie spielen allein oder mit einem zweiten Kind, jedoch nicht mit mehreren Spielpartnern.
  • Sie fühlen sich unwohl im Morgenkreis und beim Turnen. Gruppenaktivitäten mit und ohne Musik, Faschings- und Halloweenfeiern stressen sie in hohem Maße.
  • In ständiger innerer Anspannung bekommen geräuschempfindliche Kinder die Sprachinhalte nicht mit, die die Erzieherin der Gruppe mitteilt.

Das abwesend wirkende Verhalten hochsensibler Kinder wird leider von etlichen Fachkräften als sozio-emotionale Störung interpretiert. Vorsicht in der Einschätzung ist geboten: Hyperakusis ist nicht mit Autismus gleichzusetzen! Nach den Forschungen der U.S.amerikanischen Psychologin Elaine N. Aron sind etwa 20 Prozent aller Menschen hochsensibel und in diesem Zusammenhang geräuschempfindlich (Aron 2008: Das hochsensible Kind).

In der Schule

Häufig werden Kinder mit Entwicklungsproblemen ein halbes bis zu einem Jahr später eingeschult und das ist auch gut so, wenn sie zwischen ihrem 5. bis 7. Lebensjahr eine gezielte vorschulische Förderung erhalten. Ein weiteres Kindergartenjahr in der Warteschleife mit freiem Spielen ist wenig zielführend, weil die Umstellung auf die schulischen Anforderungen dann ein zu großer Schritt sein könnte. Als Voraussetzung zum Erlernen des Schreibens sind vielfältige Malübungen unerlässlich, bestenfalls ein grafomotorisches Vorschultraining, zu dem es zahlreiche Übungshefte gibt.

Wenn die Muskelhypotonie in den ersten Kinderjahren, bestenfalls im Säuglingsalter, noch nicht erkannt und behandelt worden ist, so entwickeln Schulkinder mit muskulärer Instabilität.

Kompensationsstrategien mit verhaltenstypischen Merkmalen

Ein Vormittag in der Schule bedeutet einen gewaltigen Kraftakt für Kinder mit ungenügender Haltungskontrolle wegen ihrer rasch ermüdenden Muskulatur. Beim Sitzen sind sie ständig mit der Suche nach einer aufrechten Haltung beschäftigt. Sie rutschen an die Stuhlkante, wippen, lehnen den Rumpf am Tisch an, stützen den Kopf auf oder legen ihn auf die Tischplatte, nesteln an Kleidung und Utensilien. Ein Alarmzeichen, das bedeutet: jetzt ist Aufstehen angesagt! Ein Stehpult ist eine gute Alternative zum ermüdenden Sitzen, sodass verschiedene Körperpositionen abgewechselt werden können.

Das Schriftbild von Kindern mit Muskelhypotonie ist häufig auffällig. Die Druckschrift gelingt einigermaßen mit verkrampfter Stifthaltung, aber bei der Schreibschrift tanzen die Buchstaben auf den Linien. Gegen Ende jeder Zeile wird die Schrift krakeliger, die Buchstaben auseinandergezogen. Das Schreiben in Schreibschrift fällt vielen Kindern schwer. Sie geben sich Mühe, und trotzdem ist die Schrift eckig, nicht auf der Linie, bisweilen unleserlich.
Die Ermüdung der Schreibhand und des federführenden Armes kompensieren einige Kinder mit dem Abwechseln der Hände. Damit ist die Präferenz für Rechts- oder Linkshändigkeit ist nicht immer klar erkennbar. Bei Muskelhypotonie hat der Handwechsel mit verminderter Kraft der Muskulatur zu tun, nicht – wie oft angenommen wird – mit neuronaler Veranlagung. Aufgrund dieser auffälligen grafomotorischen Probleme erhalten einige Kinder endlich eine Heilmittelverordnung zur Ergotherapie Jedoch helfen solitäre Schreibübungen wenig, wenn nicht die gesamte Skelettmuskulatur trainiert wird.
Es kann eine bedeutsame Entlastung für alle Beteiligten sein, wenn ein Kind mit Muskelhypotonie in der Schule auf einer Tastatur schreiben darf. Sinnvoll ist das Erlernen des 10-Fingersystems alternativ zur mühsamen Schreibschrift. Diese Möglichkeit motiviert und integriert das Kind und erleichtert auch der Lehrer*in die Arbeit.

Aufmerksamkeitsdefizit oder (nur) motorische Kompensation?

Die muskuläre Instabilität äußert sich als motorische Unruhe, als hyperkinetisches Verhalten, dass dann meist mit Hyperaktivität verwechselt wird. Dieses motorisch bedingte Verhalten wird generell als „Aufmerksamkeitsdefizit“ gesehen, leider auch von Fachleuten. Ausdauer erfordernde feinmotorische Tätigkeiten, die mit Sitzen verbunden sind, bringen Kinder mit instabiler Körperhaltung an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit. Es kann zu „Fadenrissen“ kommen. Man sollte nicht generell davon ausgehen, dass unruhig sitzende Kinder unkonzentriert sind. Sie benötigen mehrmals während einer Unterrichtsstunde Positionswechsel, Stehpulte und wippende Hocker. Zweimal in der Woche Schulsport reicht nicht aus, sondern anregende Bewegungen während des Unterrichtes erleichtern die Aufmerksamkeit. Nicht nur still sitzen müssen, sondern variable Körperpositionen zwischen Sitzen auf Stühlen, Hocken am Boden und Aufstehen kommt der ganzen Klasse zugute. Am besten regt Hüpfen den Muskeltonus an, jedoch fehlen an den Schulen hierzulande frei zugängliche Trampoline und Airtramps.

Hyperkinetisches Bewegungsverhalten kann eine Kompensation von verminderter Haltungskontrolle in Ruhe sein und darf aus neurophysiologischer Sicht im Kontext mit Muskelhypotonie interpretiert werden.

Psychische Probleme

Etliche ältere Schulkinder mit Muskelhypotonie werden zunehmend bewegungsärmer, vermeiden die Teilnahme am Schulsport, finden Ausreden für besonders ausdauernde Sportarten wie Ballsport auf großem Spielfeld. Ihr Umgang mit dem Ball ist ungeschickt, niemand will sie in seiner Mannschaft haben. Geräteturnen ist ihnen kaum möglich, sie können keinen Klimmzug machen, haben Angst vom Barren herunterzufallen. Ängste zu versagen mischen sich mit Furcht vor Mobbing. Weil ihr Grundproblem nicht erkannt wird, werden Schulkinder dann eher zum Kinder-Jugend-Psychiater geschickt, als zur Ergotherapie überwiesen. Dabei stufen Kinderärzt*innen die sensomotorischen Probleme der Kinder seit etlichen Jahren als behandlungsbedürftig ein. Auf der Heilmittelverordnung soll folgende von den Krankenkassen anerkannte Formulierung stehen:

Umschriebene Entwicklungsstörungen motorischer Funktionen

Die Kurzform lautet UEMF F82 nach ICD 10, der internationalen Klassifikation der WHO, denn sensomotorische Entwicklungsprobleme sind keine solitäre Erscheinung. Die Haltungs- und Koordinationsprobleme fallen besonders im Sportunterricht auf. Trotz größter Anstrengung des Kindes versagen ihm immer wieder die Kräfte. Koordinationsstörungen werden unter dem o. g. Begriff „Umschriebene Entwicklungsstörungen motorischer Funktionen/UEMF“ zusammengefasst. Der Aspekt der muskulären Instabilität wird dabei vermisst. Die meisten dieser Kinder turnen und toben gerne im häuslichen Umfeld. Sie bewegen sich schnell und ruckartig, sie können sich jedoch nicht langsam und vorsichtig bewegen,

  • nicht auf einem Bein stehen, nicht balancieren,
  • sich nicht seitwärts und rückwärts bewegen,
  • nicht in Hockstellung etwas vom Boden aufheben,
  • nicht im Halbkniestand oder Hockstellung verweilen,
  • beim Purzelbaum nicht abrollen.
  • Die Sprungkraft ist vermindert bis nicht vorhanden, das Hüpfen nicht rhythmisch.
  • Hampelmann und Seilspringen sind schwer erlernbar.
  • Bei Ballspielen fehlt Armschwung und Wurfkraft.
  • Beim Schwimmen kann der Kopf nicht über Wasser gehalten werden.
  • Viele Kinder lernen Fahrradfahren und manche Inlineskaten.
  • Beim Abbiegen können sie die Hand jedoch nicht vom Lenker lösen.
  • Sie sitzen ungern und unruhig, meist an der Stuhlkante.
  • Im Stehen unter Belastung senkt sich das Fußgewölbe ab, Knick-Senkfüße treten auf, auch Plattfüße kommen vor.

Nach jedem kräftezehrenden Vormittag in der Schule kommt das Kind völlig erschöpft nach Hause und braucht eine lange Pause, am besten einen Mittagsschlaf, um zu regenerieren. Manches Kind, dass sich während der Schulstunden übermäßig angestrengt hat, verliert unter Umständen zu Hause die Kontrolle über sein Verhalten, reagiert aggressiv, sich und andere verletzend bis hin zur Depression im Jugendalter, besonders nach jahrelangem Konsum von neurogen wirkenden Stimulanzien. Den Preis für die ungesunde Art der Bestuhlung und Beschulung zahlen dann die Eltern zu Hause. Das Kind mit Muskelhypotonie bringt weder Kraft noch Motivation auf zur zügigen Erledigung der Hausaufgaben. Es ist physisch und psychisch erschöpft. Sollte es bereits in jungen Jahren eine psychiatrische Diagnose wie ADHS erhalten, so werden ihm in Zukunft nicht alle Berufe offenstehen.

Spätfolgen

Für die aufrechte Haltung wirken die Rückenmuskeln und Bauchmuskeln in Synergie zusammen, dabei sind vor allem die tiefen, skelettnahen Anteile von Bedeutung (autochthone Muskulatur). Bei Kindern mit Muskelhypotonie, die nicht neurophysiologisch frühbehandelt wurden, prägt sich häufig im Laufe der Jahre ein Hohlkreuz aus mit schlaff vorhängendem Bauch. Die fehlende Bauchspannung erschwert die Stuhlentleerung, was zu Verdauungsproblemen bis hin zu chronischer Verstopfung führen kann. Im Stehen werden die Kniegelenke überstreckt (Genu recurvatum). Beim Gehen rollen die Füße nicht ab, der Gang wirkt schwerfällig und staksig, die Ausdauer fehlt. Treppensteigen bereitet Mühe. Beim Herabspringen fällt das Kind, der Jugendliche, in die Schwerkraft. Die Sprungkraft für das Ab- und Aufspringen fehlt.

Infolge unbehandelter Muskelhypotonie kann die Wirbelsäule eine Skoliosierung zeigen bis hin zur knöchernen Verformung zur Skoliose. Dabei ist eine Rückenhälfte stärker betroffen als die andere, da Muskelhypotonie nicht seitengleich verteilt ist. Orthopäd*innen interessieren sich für Skoliosen, jedoch führt eine isolierte Betrachtung nicht unbedingt zum angestrebten Behandlungserfolg.

Schlaffe Rückenmuskulatur kompensieren einige Menschen mit einer starren Aufrichtung der Wirbelsäule. Zusätzlich ziehen sie ihre Schultern hoch und nähern die Schulterblätter hinten einander an. Eine Überkompensation, wobei der Wirbelsäule keine natürliche Rundung mehr aufweist. Bei dieser Haltung erfolgt das Gehen kleinschrittig und steif ohne Armschwung.

Im Sitzhaltung zeigt sich folgendes Erscheinungsbild: schlaffer Rücken mit vorhängenden Armen, die Schulterblätter stehen u. U. nach außen (Scapula alata). Der Kopf wird aufgestützt und auf diese Weise der Rücken in vertikaler Position gehalten. Jugendliche mit fehlender Muskelspannung sitzen ungern am Boden, ihre Hüftgelenke sind nicht frei beweglich, sodass sie mit den Händen ihren Körper abstützen müssen.

Kinder und Jugendliche, die nicht gerne gehen, rennen, klettern und hüpfen beanspruchen und trainieren ihre Bein- und Rumpfmuskulatur zu wenig. Dieser Bewegungsmangel kann eine verminderte Funktion der Hüftgelenke nach sich ziehen. Die spiralige Knochenstruktur bildet und festigt sich durch kraftvolle Belastung und Entlastung im dynamischen Wechsel. Wenn nun mehrere Faktoren zusammenkommen – kein kreuzkoordiniertes Krabbeln, spätes selbstständiges Gehen, dazu viel gefahren werden – bilden sich die Hüftgelenke ggf. ungenügend aus. Besonders Kinder mit globaler Entwicklungsverzögerung, mit genetischen Syndromen oder neurologischen Erkrankungen sind gefährdet für Hüftdysplasie, bisweilen auch für Hüftluxation. Dabei verliert der Oberschenkelkopf den Kontakt mit der Gelenkpfanne des Beckens. Wieder dominiert ein orthopädisches Problem, dem mit Lagerungsschienen und Operation begegnet wird. Eine Operation kann jedoch keine spezifische Belastung und Bewegung ersetzen.

Etliche langsame Kinder und Jugendliche mögen schnelle Fortbewegungen, sie haben bisweilen waghalsige Hobbys im Widerspruch zu ihrer mangelnden Koordination. Einige fahren Mountainbike und Ski, Skateboard und Rollerblades. Kinder, die sich weder abrollen noch abstützen können, sind gefährdet für Sturzverletzungen. Schnelle Sportarten multiplizieren die Sturzgefahr mit Kopfverletzungen (Schädel-Hirn-Traumen).

Zahlreiche Hinweise zur Förderung von Kindern mit Muskelhypotonie und zum Vermeiden von Spätfolgen finden Sie in meinen Sachbüchern und Artikeln zum Downloaden auf dieser Webseite. Das aktuelle Buch „Unterwegs auf vier Füssen“ fasst die mit Muskelhypotonie verbundenen Entwicklungsprobleme auch für Eltern und nicht-medizinische Betreuer*innen verständlich zusammen.

Therapieempfehlungen

Im Säuglingsalter wirkt eine neurophysiologische Behandlung schnell und nachhaltig. Eltern geben der Castillo Morales®-Therapie den Vorrang, siehe Seiler (2017) S. 134 in „Nicht verzagen trotz Muskelhypotonie – Perspektiven bei Entwicklungsverzögerungen“. Speziell geschulte Physiotherapeuten behandeln Säuglinge neurophysiologisch, eine Zusatzqualifikation, ein Zertifikat ist erforderlich.

Reittherapie, Hippotherapie, wirkt sich positiv auf die Körperhaltung und Sitzhaltung aus. Die Bewegungen des Pferdes beeinflussen den Muskeltonus günstig. Trampolinspringen auf einem federnden Untergrund wirkt tonusregulierend und ausdauerfördernd. Es ist für heranwachsende Kinder und Jugendliche mit hypotoner Haltung unerlässlich als Bewegungsausgleich zu langem Sitzen. Lesen Sie dazu mehr in Seiler (2010) S. 200-202 in „Chancen für Kinder mit Muskelhypotonie und Entwicklungsverzögerung“.

In jahrzehntelanger Erprobung entwickelte ich eine neuromuskluäre Therapie zur Behandlung von Muskelhypotonie, Muskelschwäche und zerebralen Bewegungsstörungen, die Bewährtes aus dem Castillo Morales®-Konzept ergänzt und erweitert. Sie wirkt effizient bei genetischen Syndromen, früh geborenen und ausgeprägt entwicklungsverzögerten Kindern.